"Die Seele in der Silberschicht", so überschrieb Rudolf Arnheim seinen ersten Beitrag für "Die Weltbühne", den er als gerade mal 21jähriger Student im Sommer 1925 veröffentlichen konnte. ‘Zögernd und zitternd’ reichte er Siegfried Jacobsohn diese Replik auf einen Aufsatz des bekannten kulturpolitischen Publizisten Adolf Behne ein. Behne wiederum hatte auf eine Polemik Kurt Tucholskys über Tendenzphotographie reagiert.
Tucholsky hatte für den explizit politischen Gebrauch der Photographie plädiert und eine "tendenzphotographisch illustrierte Kampfzeitung" gefordert. Adolf Behne sah die eindimensional antithetische Tendenzphotographie nur als einen Anwendungsfall. Noch wichtiger war ihm die Photographie aus künstlerischen Gründen. Behne verstieg sich allerdings dahin, die Photographie als die moderne Zeichen-Technik zu apostrophieren: Das gemalte Bild habe nur noch dort einen Sinn, wo es Dinge schaffe, die die Photographie nicht bewältigen könne.
Das ging Arnheim entschieden zu weit, und er sah sich gezwungen richtigzustellen: (Zitat)
"Die Erfindung der Photographie war insofern von allergrößter Wichtigkeit für die prinzipielle Aesthetik, als auf ein Mal möglich wurde, die Ideale der ‘naturalistischen’ Kunsttheorie auf rein maschinellem Wege im Extrem zu realisieren und so die Überflüssigkeit dieser speziellen Kunstziele schlagend zu erweisen. Die nachimpressionistischen Kunstprogramme leiteten daraus die Forderung ab, die Wirklichkeit umzugestalten: ein brauchbares Argument gegen die ‘Naturnachahmer’ war geschaffen. Immerhin hat sich die eigentliche wissenschaftliche Aesthetik bisher ein wenig darum herumgedrückt, die Photographie zur bildenden Kunst ins richtige Verhältnis zu setzen, und das Problem befindet sich immer noch im Ei-Stadium." (Zitat-Ende)
In diesem ersten Aufsatz liegt Arnheims Grundverständnis von Kunst schon offen zutage. Selbst wenn man in Betracht ziehe, so Arnheim, daß der Photograph durch Lichtwirkungen und charakteristische Ausschnitte Eignes hinzufüge, bleibe die Photographie ein mechanischer Prozeß, der bestenfalls die Gegenstandsauffassung eines künstlerisch sehenden Menschen vermitteln könne: (Zitat) "Das Kunstwerk als fixierte Ausdrucksbewegung ist damit verloren - die kostbare Menschlichkeit des Erlebnisses."
Die grundlegende Vorliebe Arnheims für die bildenden Künste mag vom Filmthema zeitweise überdeckt worden sein, doch muß sie bei seinen filmkritischen und filmtheoretischen Arbeiten stets mitgedacht werden.
II.
Rudolf Arnheim wurde am 15. Juli 1904 mitten in Berlin am Alexanderplatz geboren. Später zog die Familie nach Charlottenburg, in die Nähe des Lietzensees. Arnheims Vater besaß eine kleine Klavierfabrik. Seine Mutter war eine gebildete Frau, die sich für bildende Künste, Musik und Literatur interessierte, Französisch und Italienisch sprach.
Arnheim hatte drei jüngere Schwestern. Seine älteste Schwester, Leni, heiratete den deutschen Künstler und Kunsthistoriker Kurt Badt, der von entscheidendem Einfluß auf sein ganzes berufliches Leben werden sollte: (Zitat Arnheim) "Schon als Kind zeigte er mir Kunstwerke, ... nahm mich (mit) ins Museum und brachte mir Grundbegriffe der Kunst bei, die mich nie verlassen haben." Arnheim war kein besonders guter Schüler, pflegte schon früh eigene Interessen. Als Primaner inszenierte er Theaterstücke, zu denen er Prologe dichtete, und in denen er selbst mitspielte.
Der Vater hätte den Abiturienten gern in seinem Geschäft gesehen, doch Arnheim wollte auf die Universität. (Zitat Arnheim) "An der Berliner Universität galt Psychologie damals noch als ein Teil der Philosophie, so daß man zwei Hauptfächer zu studieren hatte. Ich habe das nie bereut, und Philosophie hat in meiner Arbeit eine immer wichtigere Rolle gespielt. Als Nebenfächer hatte ich Kunstgeschichte und Musikgeschichte." Das Psychologische Institut der Universität Berlin war in jenen Jahren die "Brutstätte der Gestaltpsychologie", hier forschten und lehrten Wolfgang Köhler, Max Wertheimer, Kurt Lewin, der Musikethnologe Erich Maria von Hornbostel und der Kunstpsychologe Johannes von Allesch. Bei Wertheimer schrieb Arnheim seine Dissertation "Experimentell-psychologische Untersuchungen zum Ausdrucksproblem", für die er über Jahre hinweg eine Vielzahl von Versuchen zur Ausdruckswahrnehmung von Handschriften und Gesichtern durchgeführt hatte.
Noch während seiner Studienzeit begann Arnheim, für Zeitungen und Zeitschriften zu schreiben. 1925 übernahm er die Filmkritik für die in Frankfurt am Main, später in Berlin erscheinende satirische Zeitschrift "Das Stachelschwein". Deren Herausgeber, Hans Reimann, charakterisierte in seiner Autobiographie "Mein Blaues Wunder" den jungen Mitarbeiter: "Zurückhaltend, sparsam in Gesten und Worten. Witz, Geist und Schärfe hob er sich für den Schreibtisch auf."
Der Sammelband "Stimme von der Galerie", den Arnheim im Jahr seiner Promotion 1928 herausbrachte, vereinigt eine Auswahl seiner Filmkritiken mit etlichen Feuilletons, die auch bereits für "Die Weltbühne" entstanden waren. Noch zu Lebzeiten des Ende 1926 verstorbenen "Weltbühne"-Gründers Siegfried Jacobsohn war Arnheim zum regelmäßigen Mitarbeiter geworden. Jacobsohns Nachfolger Carl von Ossietzky machte den frischgebackenen Doktor der Philosophie zum Redakteur für den kulturellen Teil: (Zitat Arnheim) "Ossietzky ließ mir viel Freiheit, und ich schrieb fast jede Woche außerdem einen eigenen Beitrag, häufig über Film, aber auch über andere ästhetische und psychologische Themen. Natürlich war ich in fast täglicher brieflicher Verbindung mit Kurt Tucholsky, der auch hin und wieder nach Deutschland zu Besuch kam. Alfred Polgar und Erich Kästner standen mir unter den Mitarbeitern am nächsten. Mit den Politikern hatte ich wenig Kontakt."
Für die "Weltbühne" schrieb Arnheim insgesamt etwa 170 Beiträge, davon ca. 70 Filmkritiken, die das Rohmaterial für sein filmtheoretisches Hauaptwerk "Film als Kunst" bildeten, das im Herbst 1932 erschien. Der Filmkritiker Arnheim war mit dem Dokumentarfilmer Wilfried Basse und dem Filmbuchlektor und Redakteur von "Filmtechnik", "Filmkunst" und "Film für alle", Andor Kraszna-Krausz befreundet, mit Béla Balázs und Joseph von Sternberg bekannt. (Zitat Arnheim) "Ein Gespräch mit Eisenstein, der auf dem Rückwege von Mexiko in Berlin haltmachte, ist mir in Erinnerung geblieben, und auch der Besuch von Dsiga Vertov, den die Basses bei sich beherbergten." Bis zum Ende der Weimarer Republik schrieb Arnheim weitere Filmartikel für Tageszeitungen und Fachzeitschriften, darunter das "Berliner Tageblatt", die "Neue Zürcher Zeitung", die "Filmkunst" und "Film für alle", und er interviewte Filmschaffende für den Hörfunk.
Nach ihrer Machtergreifung verboten die Nazis die "Weltbühne" und das Buch "Film als Kunst", warfen Ossietzky ins Gefängnis und nahmen dem Linksintellektuellen und Juden Arnheim jede Arbeitsmöglichkeit. Es verwundert, daß man ihn nicht sofort nach der Machtübernahme verhaftet hat, schrieb er doch 1932 in einem Bärtchen-Vergleich: "Wer Hitlern ins Gesicht blickt, dem muß Charlie Chaplin einfallen. ... Das Leukoplastbärtchen aber ist nur als kontrastierender Farbfleck möglich. Der Hölle ein willkommener Spott und peinlich selbst dem lieben Gott." Chaplin klebe es sich auf die Lippe, wenn er einen kleinen Mann darstellen wolle, der komisch wirke, weil er seine lumpige Armseligkeit wie einen gutsitzenden Frack trage: "... dazu gehört das Bärtchen, weil es mit kleinen Mitteln Großes vorzutäuschen wünscht."
Der Kulturredakteur des "Berliner Tageblattes", Hermann Sinsheimer, gab Arnheim in der ersten Jahreshälfte 1933 Gelegenheit, einige Artikel unter dem Pseudonym "Robert Ambach" zu veröffentlichen. Auch schrieb Arnheim noch den Film-Beitrag für eines der denkwürdigsten Bücher der neueren deutschen Geschichte: Das von Siegmund Kaznelson herausgegebene Sammelwerk "Juden im deutschen Kulturbereich", mit dem den nazistischen Schmähungen und Herabsetzungen gewissermaßen eine kulturelle Leistungsbilanz entgegengestellt wird. Die erste Auflage, Ende 1934 zur Auslieferung bereit, wurde beschlagnahmt; eine zweite, stark erweiterte Ausgabe erschien 1959.
(Zitat Arnheim) "Da ich nicht länger in Deutschland arbeiten konnte, schlug ich dem Direktor des Internationalen Lehrfilminstituts in Rom vor, mich zu engagieren." Luciano de Feo willigte ein, und im August 1933 emigrierte Arnheim nach Italien. Das Institut für Lehrfilmwesen war eine Gründung des Völkerbundes und gab die Zeitschriften "Intercine" (1935) und "Cinema" (1936-1938) heraus, als einer von deren Redakteuren Arnheim eine Vielzahl von Artikeln beitrug. Wichtiger war jedoch die Arnheim und anderen anvertraute Herausgabe der ersten großen, mehrbändigen Enzyklopädie des Films, zu der Experten aus aller Welt Beiträge lieferten. (Zitat Arnheim) "Für diese Enzyklopädie schrieb ich viele Beiträge und machte auch an die tausend Seiten Bilderumbruch - alles umsonst, da Italien 1938 aus dem Völkerbund austrat und damit seine Geldquellen verlor." Und weil Mussolini gleichzeitig die Rassengesetze der Nazis übernahm, mußte Arnheim dieses Land, in dem er viele Freunde gefunden hatte, verlassen. Während seiner römischen Jahre hatte er Verbindung mit Francesco Pasinetti, dem Essayisten Emilio Cecchi, dessen Tochter, der späteren Drehbuchautorin neorealistischer Filme, Suso Cecchi D’Amico, und ihrem Gatten, dem Musikkritiker Fedele D’Amico. Er lernte Louis Lumière kennen, der Ehrenmitglied des Lehrfilminstitutes war, und an der römischen Filmschule, dem Centro Sperimentale per la Cinematografia, wo Arnheim gelegentlich unterrichtete, den späteren Filmregisseur Giuseppe de Santis. Schon vor Beginn seines Italien-Aufenthaltes hatte Arnheim sein Buch über künstlerische und wahrnehmungsmäßige Grundprobleme des Hörfunks geschrieben: "Der Rundfunk sucht seine Form" ist der Titel des deutschen Originalmanuskriptes, das 1936 in englischer, 1938 in italienischer und erst 1979 unter dem Titel "Rundfunk als Hörkunst" in deutscher Sprache erschien. In seinem letzten italienischen Jahr schrieb er auch seinen letzten größeren Aufsatz zum Film, "Nuovo Laocoonte" (Neuer Laokoon. Die Verkoppelung der künstlerischen Mittel, untersucht anläßlich des Sprechfilms").
Mit Hilfe des für ihn bürgenden englischen Schriftstellers Herbert Read, der gemeinsam mit seiner Frau das "Rundfunk"-Buch übersetzt hatte, gelangte Arnheim nach England. Bei der British Broadcasting Corporation in London war er eine Zeitlang als Übersetzer für den deutschen Nachrichtendienst tätig. Sein Ziel aber war Amerika. (Zitat Arnheim) "Anfang Oktober 1940, als Europa bereits im Kriege war, Amerika aber noch nicht, erhielt ich endlich das amerikanische Einwanderungsvisum und schiffte mich auf einem Schiff der englischen Cunardlinie ein. Meine ganze Barschaft waren zehn Pfund, mehr durfte man nicht (mit) herausnehmen."
Mit im Emigrantengepäck befand sich auch Arnheims einziger Roman "Eine verkehrte Welt", den er in den untätigen letzten italienischen Monaten begonnen und in London fertiggeschrieben hatte. Eine erste Edition des Buches scheiterte 1949 an wirtschaftlichen Problemen des Verlages. Und heute gibt uns sein Erscheinen den willkommenen Anlaß für das erste Symposion über Rudolf Arnheim auf deutschem Boden.
Doch zurück in das Jahr 1940: In den USA hatte Arnheim das Glück, bald auf Leute zu treffen, die seine Arbeiten zum Film kannten und schätzten. Paul F. Lazarsfeld verschaffte ihm ein Forschungsstipendium der Rockefeller Foundation; für das Office of Radio Research der Columbia Universität untersuchte er die "soap operas" des amerikanischen Hörfunks. Ein weiteres Stipendium, von der Guggenheim Foundation, ermöglichte ihm grundlegende Arbeiten zur Anwendung der Gestaltpsychologie auf die Kunst, als deren Resultat er 1954 das Buch "Art and Visual Perception" (Kunst und Sehen, 1965) vorlegte. 1943 erhielt Arnheim eine Anstellung am Sarah Lawrence College in New York und unterrichtete dort bis 1966 Theoretische Psychologie und Kunstpsychologie. Ebenfalls 1943 übernahm er die Vorlesungen des verstorbenen Max Wertheimer an der New School for Social Research in New York. 1957 brachte er "Film as Art", eine Kurzfassung von "Film als Kunst" vereinigt mit vier Aufsätzen aus der italienischen Zeit, heraus: In dieser Form wurde seine Filmtheorie in viele Sprachen übersetzt. Von 1959 bis 1960 lehrte er als Fulbright-Professor an den Universitäten von Tokio und Fukuoka in Japan. Ein Stipendium des U.S. Office of Education von 1966 bis 1968 führte zu dem Buch "Visual Thinking" (Anschauliches Denken, 1972). Danach trat Arnheim eine Professur für Kunstpsychologie an der Harvard-Universität in Cambridge, Mass. an. Nach seiner Emeritierung 1974 zog er mit seiner zweiten Frau Mary, geborene Frame, (seine erste Ehe mit Annette Siecke war in Italien auseinandergegangen) nach Ann Arbor, Michigan. Bis Mitte der 80er Jahre war er Gastprofessor am College of Literature, Arts, and Science an der University of Michigan. Mittlerweile ist Arnheim 6facher Ehrendoktor amerikanischer Universitäten.
Auch wenn sich Arnheim in den USA von der Filmtheorie und -kritik weitgehend abgewandt hatte, blieb er doch dem Film verbunden: Er gehörte zu den ersten Direktoren der Mitte der fünfziger Jahre gegründeten "Creative Film Foundation", die Stipendien zur Förderung des Films als Kunstform vergab. Mit Kracauer befreundet, schrieb er seinen wichtigsten Filmartikel der amerikanischen Zeit 1963 als Rezension von dessen "Theorie des Films". In den sechziger Jahren fungierte er in jenem Jahr, als Antonioni den ersten Preis für "Il deserto Rosso" erhält, als Jurymitglied der Film-Biennale in Venedig. Im Jahre 1978 verlieh ihm das Bundesinnenministerium den deutschen Filmpreis: ein Filmband in Gold für langjähriges und hervorragendes Wirken im deutschen Film. Ich hatte damals die Ehre und das große Vergnügen, für Arnheim diesen Preis entgegenzunehmen - und auf der Bühne des Berliner Zoopalastes zwischen Fassbinder und Douglas Sirk zu sitzen. 1995 verleiht die Carl-von-Ossietzky-Universität in Oldenburg Rudolf Arnheim die Ehrendoktorwürde - als einem der bedeutenden Kultur- und Medienkritiker dieses Jahrhunderts und Weggefährten ihres Namensgebers Ossietzky.
III.
Rudolf Arnheims wissenschaftliches und schriftstellerisches Interesse galt stets und gilt noch der Erforschung der visuellen Wahrnehmung. Schon seine Dissertation war Experimenten zur Wahrnehmung und charakterologischen Bewertung visueller Erscheinungen, von Handschriften und Gesichtern gewidmet. Und schon hier schien ihn das Problem des künstlerischen Ausdrucks eher anzusprechen als die charakterologischen, graphologischen und physiognomischen Schlüsse. Etwa zur selben Zeit, als Arnheim mit seinen Versuchen zur Physiognomik begann, erschien Béla Balázs’ erste Theorie des stummen Films "Der sichtbare Mensch", in der dem Physiognomie-Begriff eine wichtige Stellung eingeräumt wurde: Im Mittelpunkt von Balázs’ Theorie steht der Schauspieler, eben der "sichtbare Mensch", der, weil er im Stummfilm alles mit seinem Äußeren darzustellen hat, außer Mimik und Gestik auch seine Physiognomie als Ausdrucksmittel einsetzen muß. "Denn was innen, das ist außen." - dieses Goethe-Wort findet sich nicht nur bei Balázs, sondern auch bei dem Gestaltpsychologen und Arnheim-Lehrer Wolfgang Köhler. Der Gestaltpsychologie, die den Besonderheiten der visuellen Wahrnehmung ihre Entstehung und ihre wertvollsten Gesetze verdankt, fühlt sich Arnheim bis heute verpflichtet. Zumal die Gestaltpsychologie eine starke Beziehung zur Kunst hat, denn das Kunstwerk gilt als sehr typisches Beispiel eines Gestaltzusammenhangs.
Arnheim selbst schlug einmal die Unterteilung der Künste in klassische und "reproduktive" vor. Das Besondere der reproduktiven Kunst, zu der er die Fotografie, den Film und den Rundfunk zusammenfaßte, bestehe darin, daß "sich in ihr die Wirklichkeit selbst abbildet" (Kritiken und Aufsätze zum Film, S. 22). Von den klassischen Künsten interessierten ihn im wesentlichen nur die visuellen, die bildenden Künste. Es ist von Bedeutung für seine Filmtheorie, und unterscheidet ihn von anderen Filmtheoretikern, daß er den Wortkünsten für seine eigene Arbeit nur wenig abgewinnen konnte. Sein kunstpsychologisches Hauptwerk "Kunst und Sehen - Eine Psychologie des schöpferischen Auges" befaßt sich ausschließlich mit Beispielen aus Malerei und Bildhauerei; ein weiteres Buch, "Die Dynamik der architektonischen Form", verlängert jenen Untersuchungsansatz in die Architektur. In dem Buch "Anschauliches Denken" widerlegt er die verbreitete Ansicht, Worte, Begriffe seien eine notwendige Voraussetzung für menschliches Denken. Das Zeitalter der visuellen Kultur, von Balázs 1924 eingeläutet, hat in Arnheim seinen Theoretiker und Propheten zugleich. Der Anlaß für die Hoffnung auf eine Überwindung der Begriffskultur war beiden, Balázs und Arnheim, der Film.
Um Arnheims Beitrag zur filmästhetischen Theorie einordnen zu können, sei zunächst deren Entwicklung kurz skizziert: In den frühesten Diskussionen über das Wesen des Films war die verbreitetste Meinung, hier handle es sich nicht um Kunst, sondern um die mechanische Reproduktion von natürlichen Vorgängen. Ein Fortschritt war demgegenüber die Ansicht, der Film könne doch Kunst sein, wenn er die Leistungen, die Künstler vor der Kamera erbrächten, reproduziere. Eine spezifisch filmische Mimik- und Gebärdensprache, exemplarisch von Asta Nielsen und Charlie Chaplin entwickelt, grenze den Film von den anderen Künsten ab. Im Mittelpunkt dieser ersten Phase filmästhetischer Theorie stand mithin der Schauspieler. Ansätze zu einer Schauspielertheorie, wie sie besonders von Bloem (1922) und Balàzs (1924) formuliert wurden, finden sich bereits vor dem Ersten Weltkrieg, beispielsweise bei Herbert Tannenbaum 1912 und in der Kinoreformerzeitschrift "Bild und Film". Balàzs’ Theorie enthielt aber auch eine Besonderheit des Films, die schließlich zur Ablösung der Reproduktionsthese führen sollte: die Großaufnahme, die allerdings schon Hugo Münsterberg 1916 herausgestellt hatte. Für Balázs 1924 diente die Großaufnahme noch dazu, das Mienenspiel des Schauspielers hervorzuheben. Bei Eisenstein und Pudowkin wurde sie zum Ausgangspunkt für die filmästhetische Revolution des Einstellungswechsels und der Montage. Kunst wurde nicht mehr vor, sondern mit der Kamera gemacht. Man glaubte gar, auf professionelle Schauspieler verzichten zu können. Balázs schloß sich dieser Entwicklung, der Montagetheorie, in seinem zweiten Filmtheoriebuch, "Der Geist des Films", von 1930 weitgehend an. Zwei Jahre darauf erschien Arnheims "Film als Kunst". Dieser theoriegeschichtliche Zusammenhang erklärt wohl den Schwerpunkt des Buches auf den Gestaltungsmitteln der Kamera und des Bildstreifens. Arnheim ging es allerdings weniger um eine Auflistung filmtechnischer Möglichkeiten, sondern um eine Ableitung ihrer Gesetze aus den Charaktereigenschaften des filmischen Materials, um eine "Materialtheorie" des Films. Die Materialeigenschaften des Films, so Arnheim, resultieren aus der Differenz zwischen Wirklichkeit und Filmaufnahme, aus der Abweichung von "Weltbild und Filmbild". Diese ‘Mängel’ der Filmtechnik an technischer Perfektion in Bezug auf die Reproduktion von Realität begründen die gestalterischen Möglichkeiten der Filmkunst:
1. Die "Projektion von Körpern in die Fläche" wirft das Problem der charakteristischen Ansicht eines Gegenstandes auf; künstlerisch läßt sich dies zu ungewohnten, Aufmerksamkeit erregenden Einstellungen, aber auch für formale Absichten (Überschneidungen, harmonische Muster) nutzen.
2. Dies gilt auch für die "Verringerung der räumlichen Tiefe", die starke Flächenwirkung des Filmbildes, die den Wegfall von Größenkonstanz und Formkonstanz zur Folge hat (aus Hintereinander wird Nebeneinander; perspektivische Größenverschiebung wird möglich).
3. Aus dem "Wegfall der Farben", der eindimensionalen Graureihe vom reinen Weiß bis zum reinen Schwarz, resultiert ein übersichtliches Mittel, das zudem noch durch entsprechende "Beleuchtung" weitgehend variiert werden kann.
4. Die "Bildbegrenzung", der Bildrahmen, zwingt zur Motivauswahl und ist gleichzeitig Voraussetzung für die dekorativen Qualitäten des Filmbildes; der "Abstand vom Objekt" entscheidet über die Größe der Einstellung (z.B. Totale oder Großaufnahme).
5. Aus der Möglichkeit des "Wegfalls der raumzeitlichen Kontinuität" ergeben sich die verschiedenen Prinzipien der Montage.
6. Der "Wegfall der nichtoptischen Sinneswelt", insbesondere die Stummheit des Films, zwingt zu optischen, bildhaften Lösungen.
Mit Vorbedacht beschränkte Arnheim damit auch nach Einführung des Tonfilms (im Jahre 1929) die Geltung seiner Materialtheorie auf den schwarzweißen Stummfilm. Denn er vertrat eine Ansicht, die der Kinoreformer und Tübinger Kunstprofessor Konrad Lange schon 1913 ähnlich formuliert hatte: "Der Kinematograph aber strebt danach, eine vollständige, restlose Wiedergabe der Wirklichkeit zu bieten. Je mehr es ihm gelingt, alle Eigenschaften der Natur, Form, Farbe, Licht, Bewegung, Raum, Geräusch usw. darzustellen, genau der Wirklichkeit ensprechend zu reproduzieren, umso weniger Stil wird er haben, umso mehr wird er von der Kunst abrücken. Sein Weg führt nicht zur Kunst, sondern weg von ihr, in entgegengesetzter Richtung." Für Arnheim bedeutete die Einführung von Ton- und Farbfilm den Verlust einer reinen Kunstform. Ohne diese Kunst zu erkennen, hatte Konrad Lange den Verlust vorhergesagt.
In "Film als Kunst" behandelt Arnheim die übrigen Formmittel des Films, die sich nicht in gleicher Weise wie die Kameramittel stringent wahrnehmungspsychologisch ableiten ließen, also Schauspieler, Regie, Drehbuch, Dekors, nicht in gleicher Weise systematisch. Hier triumphierte nicht selten der polemisierende Filmkritiker über den abwägenden Theoretiker. Viele der Buchbeispiele sind früheren "Stachelschwein"- und "Weltbühne"-Kritiken entnommen Das Spiel der Darsteller galt ihm ohnehin nicht als Hauptleistung in einem Filmkunstwerk. Immer wieder betonte er die Bedeutung des filmischen, weil optischen Einfalls, der bildhaften Lösung von Problemen der Stoffwahl, sprach er sich gegen Schematisierung und Standardisierung aus. Ganz im Sinne der "politique des auteurs" plädierte er für die Vereinigung von Filmautor und Filmregisseur in einer Person.
Zwar erlaubte Arnheims materialtheoretisches Modell keine schlichte Erweiterung um das Formmittel des Tons; dennoch enthält "Film als Kunst" ein Kapitel über den Tonfilm. Dort untersuchte er nicht nur die Auswirkungen des Tons auf die Mittel des stummen Films, sondern benannte mit der Kontrapunktik das über den bloßen Parallelismus zum Bild hinausgehende spezifisch tonfilmische Kunstprinzip (nicht zu verwechseln mit einem dogmatischen Asynchronismus, wie ihn die Russen anfangs vertraten und den Arnheim ablehnte). Dem reinen Sprechfilm, dem Dialogfilm, widersprach Arnheim ganz entschieden; hier sah er eine andere neue Kunst im Recht: das Hörspiel.
Den Abschnitt hierüber in "Film als Kunst" baute Arnheim bald darauf zu seinem Buch "Der Rundfunk sucht seine Form" aus, das unter dem Titel "Rundfunk als Hörkunst" erst 45 Jahre nach seiner Entstehung in der Sprache veröffentlicht worden ist, in der es geschrieben wurde. In doppelter Analogie zum Stummfilm sah er hier schon Mitte der 30er Jahre eine weitere reine Kunstform von einer technischen Neuentwicklung, dem Fernsehen, bedroht, legte er die künstlerischen und wahrnehmungsmäßigen Grundprobleme des Hörfunks, des Hörspiels dar.
Ein Fotografie-Pendant zu Arnheims Filmkunst- und Hörkunst-Büchern hatte Willi Warstat schon 1909 geschrieben: "Allgemeine Ästhetik der photographischen Kunst auf psychologischer Grundlage". Aus dem gleichen Grund, der Arnheim für die Form des stummen und schwarzweißen Films plädieren ließ, setzte sich Warstat für das Prinzip der künstlerischen Unschärfe in der Fotografie ein, wie sie beispielsweise von Edward Steichen praktiziert wurde, - erst die Entfernung von der Natur, erst der Unterschied zur Wirklichkeit führt zur Kunst, gerade bei so naturnahen Künsten wie der Fotografie und dem Film. Oder wie Warstat formulierte: Ziel der fotografischen Kunst muß die Bekämpfung der absoluten Realistik der fotografischen Platte sein.
Für die künstlerische Unmöglichkeit des Sprechfilms hatte sich Arnheim noch 1938 ausgesprochen, in einem - ambitiös "Neuer Laokoon" überschriebenen - umfangreichen Aufsatz, dessen Hauptthese lautete, es müsse in einem Kunstwerk, das mehrere Künste vereine, eine Hierachie der Mittel geben.
Im Vorwort zur deutschen Neuausgabe von "Film als Kunst" übte Arnheim 1974 besonders in zwei Punkten Selbstkritik. Er habe damals den Film hauptsächlich als eine Aufreihung von Einzelszenen, von wesentlich statischen Ausdrucksakzenten angesehen, zwischen denen Handlungsverläufe als Übergänge nur eben die Verbindung herstellten. "Es würde mir heute wichtig vorkommen, vom, sagen wir, sinfonischen Verlauf des Ganzen auszugehen und alle jene kostbaren Miniaturen als Haltepunkte innerhalb der Teilhandlungen zu betrachten."
In dem Beitrag "Erzählung" für die "Enciclopedia del Cinema" hatte Arnheim sich allerdings schon 1934 (publiziert 1957 in englisch) mit gesamtdramaturgischen Aspekten befaßt, und zwar mit dem Unterschied von "epischem Film" und "dramatischen Film". Der "epische Film" zeige weder Problem noch Lösung, sondern begnüge sich mit Schilderung, mit Auswirkungen von Problemen; für ihn seien einzelne, kettenartig verbundene Episoden charakteristisch. Dem "dramatischen Film" dagegen gehe es um ein Problem, einen zentralen Konflikt, eine von Stufe zu Stufe fortschreitende Handlung, an deren Ende eine irgendwie geartete Lösung stehe.
Als zweiten Punkt seiner Selbstkritik schränkte Arnheim seine vorwiegend negative Haltung zum mechanischen Realismus des fotografischen Bildes ein. Kracauer habe in seiner "Theorie des Films" gezeigt, "daß gerade die Vereinigung des mechanisch-zuverlässig projizierten optischen Rohmaterials mit der Gestaltungskraft des Künstlers das kulturell unerhört Neue der photographischen Abbildung ausmacht". Was Arnheim hier als "optisches Rohmaterial" bezeichnet, ist nichts anderes als das "Weltbild", die Wirklichkeit, die Realität, von der sich das "Filmbild", die Kunst ursprünglich strikt hatte unterscheiden lassen müssen.
Revidiert Arnheim also seine eigene Theorie im entscheidenden Punkt? Sicherlich nicht, denn Kunst war und ist für ihn gleichbedeutend mit Form, mit Ausdruck, mit bewußtem Einsatz der gestalterischen Mittel. Formalismus, Form um der Form willen, kann man Arnheim jedoch nicht vorwerfen. Ohne Inhalt gebe es keine Form, sagt er, Kunst entstehe erst, wenn Form und Bedeutung zusammenkommen, gute Form zeige sich nicht. Arnheims Materialtheorie war von der Geschlossenheit des Systems und der logischen Schlüssigkeit her der Höhepunkt der deutschen formorientierten Filmtheorie, die als Schauspielertheorie begann und wohl mit Balàzs’ "Der Film" von 1949 ihren historischen Abschluß fand. Abgelöst wurde die formorientierte von der realistischen Filmtheorie, als deren Hauptvertreter Grierson, Bazin und eben Kracauer gelten. Der Tonfilm hatte die mechanisch reproduzierende Funktion der Kamera wieder verstärkt, den Schauspieler wieder in den Mittelpunkt gestellt. Die Theorie reagierte darauf nicht mit einer neuen Schauspielertheorie - die Tonfilmpraxis war zunächst wohl doch zu theaterähnlich. Die Theorie akzeptierte vielmehr die zunehmende Naturähnlichkeit und Realitätsnähe des tönenden und farbigen Films und wandte sich den Inhalten zu, suchte die Filmkunst nicht mehr in künstlerischer Stilisierung der formalen Mittel von Schauspieler und Kamera, sondern im Realitätsbezug der erzählten Geschichte, in der bedeutungsvollen Auswahl von Lebensausschnitten.
Arnheim setzte sich 1963 in einer Rezension von Kracauers "Theorie des Films" mit dieser Entwicklung der Filmtheorie (und des Films) auseinander, sah hier eine Tendenz am Werk, die sich auch in den anderen Künsten zeigte: eine zunehmende Formlosigkeit, die ihn so beunruhigte, daß er diesem Problem ein eigenes Buch ("Entropy and Art", 1971) widmete. Kracauers Kernthese war, daß der Film, entsprechend seiner typischsten Eigenschaft, der Wiedergabe ungeformter äußerer Wirklichkeit, die Natur physischer Existenz im Urzustand vorstellen solle, anstatt sie erst abzuschwächen: "Zusammen mit Fotografie ist Film die einzige Kunst, die ihre Rohmaterial mehr oder weniger intakt läßt. Was an Kunst in Filme eingeht, entspricht daher der Fähigkeit ihrer Schöpfer, im Buch der Natur zu lesen". (Kracauer, Theorie des Films, S. 13) Darauf entgegnete Arnheim, die bloße Gegenüberstellung mit dem sichtbaren Äußeren der Welt rufe keine Ideen wach, die nicht schon im Menschen vorhanden wären, die realistische Tendenz offenbare sich als Verzicht auf das aktive Erfassen von Bedeutung: "Es ist notwendig geworden, darauf hinzuweisen, daß der echte Realismus aus der Interpretation des Rohmaterials der Erfahrung mit Mitteln bedeutungsvoller Form besteht und daß deshalb eine Beschäftigung mit der ungeformten Materie einer melancholischen Preisgabe gleichkommt und nicht etwa einer Wiedererlangung der Herrschaft des Menschen über die Realität." (Die ungeformte Melancholie, in: Zur Psychologie der Kunst, S. 158). Kunst sei die Fähigkeit, Realität sichtbar zu machen, und Sichtbarkeit werde durch Form erreicht. Das unbehandelte Rohmaterial neige dagegen dazu, den Gegenstand unsichtbar zu machen.
In dem Aufsatz von 1965 "Kunst heute und der Film" nahm Arnheim zum bislang letzten Mal zur zeitgenössischen Filmproduktion Stellung. Seine letzte Einzelkritik liegt noch viel länger zurück: Die Besprechung von Chaplins The Great Dictator war seine erste Publikation nach seiner Ankunft in den USA 1940.
Der Filmkritiker Arnheim ließ schon 15 Jahre davor, in seinen ersten Kritiken für "Das Stachelschwein" ein profundes Urteilsvermögen erkennen. Dazu einige Beispiele: In Das Cabinet des Dr. Caligari moniert er den Gegensatz von expressionistischem Dekor und natürlichen, keineswegs stilisierten Schauspielern, die es bevölkerten. In Variete hebt er das Spiel von Emil Jannings heraus, dessen Figuren, wie alle guten Kunstwerke, stets außer ihrer jeweiligen Individualität eine wichtige Portion vom immer gleich Wesen ihres Schöpfers hätten. Er lobt den schöpferischen Blick von Pudowkin in Mat (Mutter) und Konec St. Petersburga (Das Ende von St. Petersburg), tadelte Paul Czinner und Fritz Lang in allen ihren Stummfilmen. Ohne über die produktionstechnischen Hintergründe informiert zu sein, erkennt er die dramaturgischen Lücken und Verstümmelungen in Erich von Stroheims Greed.
In Arnheims "Weltbühne"-Kritiken bildete sich noch stärker heraus, was er selbst den "Florettstil" genannt hat, bei dem ihm andere bekannte "Weltbühne"-Mitarbeiter, allen voran Alfred Polgar, Vorbild waren. Es kam schon mal vor, daß Arnheim ein Bild, mit dem Polgar den Schauspieler Karl Götz charakterisiert hatte, auf Greta Garbo anwandte: "Wo sie hintritt, wächst Gras, der Atelierboden wird fruchtbar." (Kritiken und Aufsätze, S. 323). In der "Weltbühne" verglich Arnheim häufig zwei Filme miteinander, einen guten und einen schlechten, einen teuren und einen guten, einen Stummfilm und einen Tonfilm, einen Amüsierfilm und einen Kunstfilm oder auch mal einen Film mit einem Theaterstück. Dreyer warf er vor, in La passion de Jeanne d’Arc die Geschmacksrichtung des absoluten Films auf Kosten der dramatischen Wirkung auf den Spielfilm übertragen zu haben. Sternbergs Stummfilm The Docks of New York mochte Arnheim sehr, weniger dagegen dessen Tonfilme Morocco, Dishonored und Shanghai Express. Eisenstein schien ihm mit Generalnaja Linja am untauglichen Objekt gescheitert. In Vertovs Simfonija Donbassa sah er ein nur locker zusammengehaltenes Bildgeflimmer, wegen der Überlastung des Schnitts, der künstlerischen Beschränkung auf die Montage als Gestaltungsmittel allein. Chaplin schließlich, und damit sei die Reihe der Beispiele beschlossen, Chaplin, der so wenig auf die von Arnheim favorisierten Kameramittel angewiesen war, wurde von ihm dennoch als Schöpfer des ersten echten Stils der Filmgeschichte, des Groteskfilms, anerkannt. Mitunter diskutierte Arnheim in seinen Kritiken theoretische Einzelfragen, besonders seit er ab 1929 Tonfilme zu besprechen hatte. Gerade das Tonfilm-Kapitel seines, in den "Weltbühne"-Jahren entstandenen, Filmtheorie-Buches wurde teilweise von "Weltbühne"-Kritiken vorweggenommen.
In einem Grundsatzartikel hatte er 1929 die "Fachliche Filmkritik" gefordert: Fachlich nicht im Sinne einer Produktionskritik, die den Entstehungsprozeß eines Films und die dabei auftretenden Schwierigkeiten mitberücksichtige, sondern im Sinne einer ästhetischen Kritik, die, das fertige Endprodukt vor Augen, "darauf zu achten weiß, ob ein Vorgang geschickt oder umständlich, originell oder herkömmlich ‘in Bilder gesetzt’ ist". (Kritiken und Aufsätze zum Film, S. 170). Arnheim war nicht der einzige Filmkritiker der Weimarer Jahre, der sich um Leitlinien einer ästhetischen Filmkritik bemühte. Zuvor hatte beispielsweise Herbert Jhering dazu aufgerufen, sich mit dem Gesetzmäßigen der Filmkunst auseinanderzusetzen, und Béla Balázs forderte dazu auf, endlich mit dem ästhetischen Vorurteil gegen das Kino aufzuräumen.
Die Gegenposition zur ästhetischen Filmkritik formulierte Siegfried Kracauer: "Kurzum, der Filmkritiker von Rang ist nur als Gesellschaftskritiker denkbar. Seine Mission ist: die in den Durchschnittsfilmen versteckten sozialen Vorstellungen und Ideologien zu enthüllen und durch diese Enthüllungen den Einfluß der Filme selber überall dort, wo es nottut, zu brechen."
Kracauers soziologischer, ideologiekritischer Auffassung von Filmkritik schloß sich Arnheim 1935 in seinem "Intercine"-Aufsatz "Der Filmkritiker von morgen", an. Ein Dokument der Resignation des Ästhetikers vor der Übermacht der Industrie. Den Verfall der künstlerischen Ausdrucksmittel als Folge des Tonfilms vor Augen, so Arnheim, dürfe sich der Filmkritiker nicht mehr um Kunst kümmern, sondern habe drei Gesetze zu beachten - "Erstes Gesetz: Der Sprechfilm als Darstellungsmittel schließt künstlerische Gestaltung aus. Zweites Gesetz: Der Film wird als eine Ware derart hergestellt, daß sie sich möglichst gut verkaufen läßt. Drittes Gesetz: Der Film ist nicht so sehr Ausdruck von Einzelmeinungen, als vielmehr Ausdruck allgemeiner politischer und moralischer Anschauungen." (Kritiken und Aufsätze zum Film, S. 176).
Arnheims Filmkritiken aus den römischen Jahren lassen sich ohnedies an zwei Händen abzählen. Seine Beiträge für "Cinema" (Rom) und andere Zeitschriften waren eher theoretisierende Artikel, die sich nur selten auf einzelne Filme bezogen; die interessantesten davon behandelten beispielsweise Probleme des Tonfilmschauspielers und des Dokumentarfilmes. Nach dem Krieg schrieb Arnheim für "Cinema" (Mailand) von Amerika aus noch einige Beiträge über Kino und Psychologie, Kino und Masse sowie über Fritz Lang - alles in allem genug Material, um einen zweiten Sammelband von Arnheims Filmschriften herauszubringen.
Der erste Sammelband, "Kritiken und Aufsätze zum Film", der von mir herausgegeben vor nunmehr 20 Jahren erschien, erlebte in diesem Frühsommer seine englischsprachige Publikation in den USA. Etliches, vor allem aus den italienischen Jahren, was ich Mitte der Siebziger für den ersten Sammelband vorgesehen hatte, mußte auf Drängen des Hanser-Verlages aus Platzgründen wieder herausgenommen werden. Seither ging die Arnheim-Recherche weiter und so mancher aufschlußreiche Aufsatz wurde mir von anderen Arnheim-Forschern, wie beispielsweise von Thomas Meder, übergeben. Zum Abschluß meines Vortrages will ich Ihnen die Konzeption eines zweiten Arnheim-Film-Sammelbandes vorstellen, (...).
Den Band eröffnen könnte eine Reihe von Gesprächen mit Arnheim, beispielsweise jenes von 1949 mit Domenico Meccoli: "Posizione di Arnheim". Und das von 1959 mit dem berühmten italienischen Filmhistoriker Guido Aristarco. Der zweite Abschnitt wäre den "Lehrjahren des Filmkritikers" Arnheim bei der satirischen Zeitschrift "Das Stachelschwein" gewidmet; das dritte Kapitel den Filmkritiken des "Weltbühne"-Redakteurs bis 1933. Beides in sinnvoller Ergänzung und Fortführung der entsprechenden Teile des ersten Sammelbandes. Einen Abschnitt für sich könnten auch die formästhetischen Beiträge bilden, die Arnheim noch in den "Weltbühne"-Jahren für die Amateurfilmer-Zeitschrift "Film für alle" schrieb. Ein ganz wichtiges Kapitel wäre den Jahren Arnheims als Redakteur des ICE, des italienischen Lehrfilminstitutes, seiner Enzyklopädie des Films und seiner Zeitschriften "Intercine" und vor allem "Cinema" gewidmet. Hier seien nur einige exemplarische Aufsatz-Titel genannt: Psychologie des Gags, Ausdruck und Schönheit, Auferstehung der Cineasten, Die inspirierende Landschaft, Der Schauspieler und seine Krücken. Weitere Kapitel würden Aufsätze zur Theorie und Geschichte der Filmästhetik, zu soziologischen und psychologischen Fragen des Films, zum dokumentarischen Film sowie zur Fotografie beinhalten. Den Abschluß schließlich könnten einige Rezensionen zu Filmbüchern, beispielsweise der Werke von Pudowkin, Balázs und Kracauer etc. bilden. -
Bei einer solchen Edition hätte man allerdings nicht mit übergroßer Begeisterung von Rudolf Arnheim selbst zu rechnen. Dem Film begegnet RA heute allenfalls mit reservierter Sympathie. Vor etlichen Jahren lernte ich Christian Metz kennen, einen der Mitbegründer und wichtigsten Vertreter sprachwissenschaftlich fundierter Filmtheorie. Metz erzählte mir, er habe Arnheim Ende der 60er Jahre in Harvard getroffen. Und dieser habe ihn gefragt, warum er sich nicht wesentlicheren wissenschaftlichen Gegenständen als dem Film zuwende.
Ich danke Ihnen für Ihre Aufmerksamkeit.