Nachwort zur Taschenbuchausgabe

 

 

In: Arnheim, Rudolf: Film als Kunst.

Mit einem Vorwort zur Neuausgabe,
Frankfurt am Main: Fischer Taschenbuch Verlag 1979,
S. 338-346
(Fischer Taschenbuch 3656)

 

2. Auflage 1988.

 

Was soll, so könnte der unbefangene Leser sich angesichts der Tatsache fragen, daß diesem Buch bereits ein Vorwort seines Verfassers zur Neuausgabe von 1974 vorangestellt ist, nun noch ein Nachwort? Drei Punkte haben mich bewogen, Rudolf Arnheim und den Fischer Taschenbuch Verlag um diese Gelegenheit zu bitten, einige Gedanken formulieren und Entwicklungen nachzeichnen zu dürfen: Erstens soll der theoretische und historische Standort dieses Buches aufgezeigt werden, sein hoher Rang, der ihm in der Geschichte der Filmtheorie zukommt; zweitens ist einiges zu dem Zusammenhang des Buches mit den weiteren Filmschriften seines Autors zu sagen; und drittens wollte ich zu einem kleinen Teil nachholen, was an anderer Stelle ausführlicher geplant war und aus verlagstechnischen Gründen scheiterte.

 

Die Geschichte der filmästhetischen Theorie brachte bisher zwei wesentliche Strömungen hervor: die formgebende Tendenz und die realistische Tendenz.

 

Siegfried Kracauer zeigt diese beiden Tendenzen für die Geschichte des Films auf in seiner "Theorie des Films" - beginnend mit Lumière (Realismus) und Méliès (Formgebung). J. Dudley Andrew weist in dem derzeit wichtigsten Überblick zur Geschichte der Filmtheorie ("The Major Film Theories", 1976) diese Dichotomie auch für die Theorie nach.

 

Sollte man sich in der undankbaren Lage befinden, ein Hauptwerk jeder Richtung benennen zu müssen, so steht neben der zentralen Schrift des Realismus - Kracauers eher inhaltsorientierter "Theorie des Films" ("Theory of Film", 1960, deutsch 1963) - als wichtigstes Werk der formorientierten Tradition die hier erstmals als Taschenbuch vorgelegte Monographie "Film als Kunst" von Rudolf Arnheim.

 

Eine erste Eigentümlichkeit, vergleicht man beide Richtungen, springt bei näherer Betrachtung sofort ins Auge: Die formorientierte filmtheoretische Literatur endet mit der Durchsetzung des Tonfilms um 1930. "Film als Kunst", als ihr letztes großes Werk, erscheint 1932. Die realismusorientierte Filmtheorie beginnt mit John Grierson in den dreißiger Jahren und setzt sich in den fünfziger Jahren insbesondere mit André Bazin und Kracauer fort. Die beiden Strömungen folgen also historisch aufeinander - getrennt durch die Zäsur des Tonfilms. Es erscheint folglich nicht zu gewagt, hier einen ursächlichen Zusammenhang zu sehen: Die zusätzlichen technischen Möglichkeiten des Tons (besonders der Sprache) und bald auch der Farbe vervielfachten die denkbaren Formmittel des Mediums derart, daß die Regisseure - und mit ihnen die Theoretiker - in den Realismus gezwungen wurden. Die Filmpraktiker hielten sich an den roten Faden der Realität, um sich nicht im Labyrinth der neuen Techniken zu verlieren - und weil es das Publikum so wollte. Daran hat sich bis heute nichts geändert. Die Filmtheoretiker der Tonfilmzeit hatten kaum mehr Gelegenheit, filmsprachliche Innovationen zu entdecken und in ihrer ästhetischen Wirkung zu analysieren. Im Gegenteil, zu Zeiten des schwarzweißen Stummfilms war die Bildersprache des Films weiter entwickelt als heute. Die Verarmung der Formensprache, der Realismus der Form, degradierte die Theorie zur bloßen publizistischen Begleiterin der weiteren Filmgeschichte. Filmtheorie wurde zu Genretheorie, zu Autorentheorie, zu Inhaltstheorie.

 

Kracauer betont im Vorwort zur "Theorie des Films", daß sein Buch "eine materiale Ästhetik ist, nicht eine formale. Es befaßt sich mit Inhalten". Das könnte zu Mißverständnissen führen. Denn auch Arnheim bezeichnet seine Arbeit als Materialtheorie. Die Wortbedeutung ist jedoch genau entgegengesetzt. Arnheim bezieht sich auf die Tradition der bildenden Künste: Sein Interesse gilt dem "Material" des Filmkünstlers und dessen Formbedingungen, der Vielfalt seiner gestalterischen Möglichkeiten.

 

In Deutschland begann die Geschichte der Stummfilmtheorie, als deren Höhepunkt und Ende "Film als Kunst" hier apostrophiert wird, etwa zwanzig Jahre zuvor mit einigen Monographien, deren Titel "Kino und Kunst", "Kino und Theater", "Kino und Bühne", "Der Kino und die Gebildeten" auf die Intentionen ihrer Autoren hinweisen: Es ging bereits, wie in der Stummfilmtheorie überhaupt, um die Emanzipation des neuen Mediums als "siebte" Kunstform, seine Eigenständigkeit gegenüber den klassischen Künsten, die Aufhebung der Vorurteile seitens der bürgerlichen Schichten. Die theoretischen Auseinandersetzungen der zehner Jahre wurden aber publizistisch dominiert von den "Filmreformern", konservativen Pädagogenkreisen, die die Ästhetik der frühen Filme kritisierten, jedoch deren Moral (bzw. vermeintliche Unmoral) meinten. Nicht, daß es nicht berechtigt gewesen wäre, die frühen Filme ästhetisch in Frage zu stellen! Das taten auch die ersten ausführlicheren Versuche, ästhetische Gesetzmäßigkeiten des Films zu fassen, die um 1920 erschienen: Urban Gad (der Regisseur und Ehemann Asta Nielsens), Hans Hermann Richter, Viktor Pordes, Walter Bloem d. J. - um nur die wichtigeren zu nennen - hatten sehr entschiedene Vorstellungen davon, was das Wesen des Films sei und wie man ihn verbessern könne. Künstlerisch bedeutungsvoll erschien ihnen nur das "Lichtspieldrama", der "ernste Spielfilm" (Chaplin kannte man noch 1920 im deutschsprachigen Raum nur vom Hörensagen). Stark gerafft wiedergegeben, wurde dies so begründet: Das Wesen des Films ist die Bewegung; bloße mechanische Abbildung mit der Kamera kann keine Kunst sein, also muß sich die Kunst vor der Kamera abspielen; sich bewegende, also handelnde Personen bezeugen den immanent dramatischen Charakter des Lichtspiels. Die frühen Theorien sind völlig auf den Schauspieler zugeschnitten, der "Gefühl durch Geste" (Bloem) erzeugen soll, um künstlerisch zu wirken, denn das stumme Spiel sei Gefühlskunst, nicht Gedankenkunst. Der Schauspieler steht auch noch im Mittelpunkt des ersten klassischen Werkes der Filmtheorie, Béla Balázs' "Der sichtbare Mensch", das 1924, als Quintessenz einjähriger intensivster Kritikertätigkeit für eine Wiener Tageszeitung, erscheint. Zwei Punkte besonders heben Balázs' Buch über seine Vorgänger: Zwar ist auch ihm noch die "sichtbare Geste" Verkörperung der Filmkunst, doch geht er explizit auf die Großaufnahme und - als "Bilderführung" bezeichnet - auf die Montage ein und überschreitet damit die Grenze von der naiven, zu sehr der Bühnenästhetik verhafteten Theorie zur Materialtheorie im Sinne Arnheims. Balázs' erstes Filmtheoriebuch wird allgemein - und das ist die zweite Besonderheit - als Beginn systematischer theoretischer Auseinandersetzung mit dem Medium angesehen. Mit zunehmender Verfeinerung der Theorie zeigt sich ihre Abhängigkeit von den filmsprachlichen Entdeckungen der Praktiker. Schon die naiven Theoretiker beschrieben nur den Status quo, machten allenfalls einige kaum realisierbare Vorschläge. Die Theoretiker, deren Interesse der Formensprache des Films galt, hinkten jedoch stets, oft um etliche Jahre, hinter der Praxis her. Ein Beispiel: Die Großaufnahme fand zwar bereits bei dem deutschamerikanischen Psychologen Hugo Münsterberg 1916 ("The Photoplay: A Psychological Study") Erwähnung, doch erst für Balázs war sie "die technische Bedingung der Kunst des Mienenspiels und mithin der höheren Filmkunst überhaupt". Zur Praxis sagt Kracauer: "Alle sinnvollen Nahaufnahmen gehen auf den Film After Many Years (1908) zurück, in dem D. W. Griffith zum ersten Mal ihre dramatischen Möglichkeiten demonstrierte."

 

Ein zweites Beispiel stellen die Filme von Eisenstein, Pudowkin und den anderen Russen dar, die ab 1924/25 die Filmästhetik revolutionierten, indem sie das gestalterische Element der Montage auf ein bis heute unerreichtes Niveau brachten. Kein Filmtheoretiker sah dies voraus, hätte dies prophezeit! Die Russen aber waren selbst produktive Theoretiker: Von großem Einfluß auf die weitere Theorie - auch auf Arnheim - war Pudowkins 1928 in deutsch erschienenes Buch "Filmregie und Filmmanuskript", das mit dem Leitsatz beginnt: "Die Grundlage der Filmkunst ist die Montage."

 

Der große Fortschritt der Stummfilmästhetik in den zwanziger Jahren läßt sich gut belegen durch einen Vergleich des obengenannten Balázs-Buches von 1924 mit dem zweiten, noch berühmteren Theoriewerk desselben Autors "Der Geist des Films" von 1930. Ging es Balázs im "Sichtbaren Menschen" noch um eine "Dramaturgie" des Films, so wollte er im "Geist des Films" eine "Grammatik der Filmsprache" skizzieren. Die theoretische Erkenntnis der Gestaltungsmittel der Kamera wurde weiter vervollständigt: Zu Großaufnahme und Montage kam als drittes Element die Einstellung: "Durch den besonderen Ausschnitt, durch die besondere Perspektive der Einstellung erscheint erst im Bilde der subjektive Deutungswille des Regisseurs."

 

Hatten die Theoretiker bis zu diesem Zeitpunkt die Formmittel des Films allenfalls isoliert beschrieben oder ein einzelnes Mittel besonders herausgestellt, so wurden die filmischen Ausdrucksmittel von Rudolf Arnheim in "Film als Kunst" - denn in diesem kurzen Abriß der Filmtheoriegeschichte sind wir nun am Zielpunkt angelangt - schlüssig aus dem Unterschied zwischen Weltbild und Filmbild, zwischen Realität und ihrer bewußten Abbildung entwickelt und in einen modellartigen Zusammenhang gebracht, zur "Materialtheorie" zusammengefaßt. Der Rezensent von 1932 kennzeichnete Arnheim als den ersten, der die filmtheoretische Literatur vor ihm wertend und einordnend ausnützte: "Er wird dadurch wieder den anderen überlegen, die alles an Hand einer Formel, einer Sentenz, eines Schlagwortes begreifen und begreiflich machen möchten." (Andor Kraszna-Krausz in "Die Weltbühne".) Der Rezensent von 1975 (nach Erscheinen der Neuausgabe): "Es ist wohl kein Zufall, daß jene ohnehin raren Versuche, das Wesen des Films in eine geschlossene Theorie zu fassen, Jahrzehnte zurückliegen." (Michael Schwarze in "Frankfurter Allgemeine Zeitung".) Schwarze nennt Arnheim einen "Maschinenstürmer im Filmstudio", der sich gegen den Ablauf der Geschichte, sprich: gegen den technischen und ökonomischen Siegeszug des Tonfilms stemme. Es ist richtig, daß Arnheims Theorie sich ausschließlich auf die visuellen Aspekte des schwarzweißen Films bezieht. Und es mag manche provozieren, daß Arnheim in den fünfziger Jahren die Filmkunst als ein einzigartiges Experiment bezeichnete, das in den ersten drei Jahrzehnten unseres Jahrhunderts stattgefunden habe. Bezüglich des Tons im Film - d. h. eigentlich der Sprache, denn von der Musik hat das Kino auch zu Stummfilmzeiten wesentliche Stimmungswirkungen bezogen - wird man sich mit Arnheim dahingehend einigen können, daß auch heute noch jene Filme die ästhetisch wertvolleren sind, die vom Bild leben, für die die Sprache also zweitrangig ist. Es sollte sozusagen eine Hierarchie der filmkünstlerischen Mittel geben, wie sie Arnheim in seinem nach "Film als Kunst" wichtigsten filmtheoretischen Beitrag postuliert, dem längeren Aufsatz "Neuer Laokoon. Die Verkoppelung der künstlerischen Mittel, untersucht anläßlich des Sprechfilms", der zuerst 1938 in der italienischen Filmtheoriezeitschrift "Bianco e Nero" publiziert wurde. - Und was den Farbfilm angeht, so hat sich die Filmtheorie bis heute nicht an dessen ästhetische Probleme herangewagt, sei es wegen der Komplexität der gestalterischen Möglichkeiten, sei es wegen eklatanten Materialmangels, was die praktische Seite angeht - zwei Seiten derselben Medaille.

 

Doch wie kam der promovierte Psychologe Arnheim überhaupt dazu, eines der wesentlichsten filmtheoretischen Bücher zu verfassen? Bereits während seines Studiums, das neben der Psychologie auch der Philosophie, der Kunst- und Musikgeschichte galt, begann Arnheim damit, Filmkritiken für die satirische Zeitschrift Hans Reimanns "Das Stachelschwein" zu schreiben. Reimann über seinen jungen Filmkritiker: "Zurückhaltend, sparsam in Gesten und Worten. Witz, Geist, Schärfe hob er sich für den Schreibtisch auf." Und dort entstand Fundiertes zu Das Cabinet des Doktor Caligari und Greed, Buster Keaton und Emil Jannings, Pudowkins Meisterwerken und Fritz Langs Kunstgewerbe. 1928 promovierte Amheim mit der Arbeit "Experimentell-Psychologische Untersuchungen zum Ausdrucksproblem". Hinter dem spröden Titel verbirgt sich ein Teilbereich der Psychologie, auf dessen besonderen Wert für die Stummfilmästhetik bereits Balázs im "Sichtbaren Menschen" hingewiesen hatte: die Physiognomik, die Lehre vom Zusammenhang des Äußeren mit dem Inneren des Menschen. Die Bedeutung für den Stummfilm ist offensichtlich, weil dort sozusagen das Innere der Protagonisten, ihre Psyche, ihr Charakter, nach außen gekehrt werden muß, um für das Publikum sichtbar zu werden. Arnheims Dissertation hatte zwar überhaupt nichts mit Film zu tun, doch bezeugt sie einmal sein Interesse für visuelle Phänomene vom Beginn seiner wissenschaftlichen Tätigkeit an, zum anderen steht sie für seine profunde methodische Ausbildung, die ihm beim Durchdenken und Systematisieren der filmästhetischen Probleme sehr zustatten kam. "Film als Kunst" entstand in den Jahren 1929 bis 1931 während Arnheims Redakteurszeit bei der "Weltbühne", deren ständiger Filmkritiker er gleichzeitig war. Die Personalunion von Kritiker und Theoretiker, von philosophisch geschultem Denker und sprachlich mit Treffsicherheit und Humor begabtem Schreiber ist ein seltener Glücksfall, der sein historisches Vorbild in Béla Balázs und "Der sichtbare Mensch" hat. Die über siebzig Filmartikel Arnheims für die "Weltbühne", auf die im einzelnen einzugehen hier nicht der Platz ist, gaben die empirische Basis für das Hauptwerk. In der Einzelkritik (von zumeist zwei zueinander in Beziehung und Kontrast gesetzten Filmen) von der Aktualität geprägt, wird deren Einschätzung im Buch in den theoretischen Zusammenhang gestellt. Andererseits sind die ästhetischen Urteile in den Kritiken schärfer, sarkastischer, witziger formuliert, als es das Gebot zur Sachlichkeit beim Buch erlaubt hätte: War Alfred Polgar Geburtshelfer der "Weltbühne"-Kritiken und -Feuilletons, so stand Heinrich Wölfflin Pate bei "Film als Kunst". (Nachzulesen sind Arnheims beste Filmkritiken in "Kritiken und Aufsätze zum Film", Fischer-Taschenbuch Nr. 3653.)

 

Ohne daß sich seine grundsätzlichen Ansichten zu Filmkunst und Tonfilm wesentlich änderten, führte Arnheim in den wenigen Jahren, die er noch wissenschaftlich diesem Thema widmete, den Ansatz aus "Film als Kunst" fort: in Artikeln für das "Berliner Tageblatt" (nach der Machtübernahme Hitlers unter dem Pseudonym Robert Ambach) und nach seiner Abreise nach Rom im August 1933 für die "Neue Zürcher Zeitung", für die nicht zustande gekommene Filmenzyklopädie des Istituto Internazionale per la Cinematografia Educativa (ICE) und dessen Zeitschriften "Intercine" und "Cinema", schließlich für die bereits erwähnte "Bianco e Nero". In einem wenig bekannten Aufsatz für die "Neue Zürcher Zeitung" faßte er 1933 Fotografie, Stumm- und Tonfilm sowie Hörfunk zu "Unterabteilungen einer einzigen neuen Kunst" zusammen, "die man 'reproduktive Kunst' nennen könnte", und schafft damit eine mögliche ästhetische Parallele zur soziologisch erweiterten Sicht des Films als ein Massenkommunikationsmittel unter mehreren. Arnheim baute diesen Ansatz zwar nicht weiter aus, doch verfaßte er in den Jahren darauf ein Hörfunk-Pendant zu "Film als Kunst", das 1936 in englisch und 1938 in italienisch veröffentlicht wurde. Dieses wichtige Werk, in dem er sich, nach dem Stummfilm, einer weiteren aussterbenden, weil vom Fernsehen bedrohten Kunstform annahm, hatte er zwar in deutsch geschrieben, doch wurde es erst 1979 in seiner Muttersprache unter dem Titel "Rundfunk als Hörkunst" veröffentlicht.

 

Von den wenigen Artikeln, die Arnheim nach 1940 über Film schrieb, ist seine ausführliche Besprechung der Kracauerschen "Theorie des Films" - und damit schließt sich der Bogen zum Anfang dieses Nachwortes - mit dem Titel "Melancholy unshaped" (1963; deutsch 1977: "Die ungeformte Melancholie" in "Zur Psychologie der Kunst") sicherlich der wichtigste. Es ist faszinierend, wie Arnheim die Essenz von Kracauers Filmtheorie herausarbeitet und -seinen seit den vierziger Jahren allgemeineren Interessen an den visuellen Ausdrucksmitteln entsprechend - auf die anderen Künste überträgt, insbesondere Parallelen zu Entwicklungen in der Malerei aufspürt. Nach Kracauer schränken die fotografischen Medien die Formfreiheit des Künstlers mehr als andere Künste ein. Der Filmkünstler beeinflußt sein Material eher, als daß er es formt. Daraus leitet Kracauer die Bestimmung des Films ab, zur Errettung der äußeren Wirklichkeit beizutragen, die Natur physischer Existenz im Urzustand vorzustellen. Dieser "realistischen Tendenz", dieser Realitätsvorstellung als grenzenloser, unbestimmter, unergründlicher Welt setzt Arnheim seine eigene, wahrnehmungspsychologisch begründete, Realitätssicht entgegen: Die "'stilisierte' Einfachheit ist der Prototyp der echten Konkretheit, der elementaren Wirklichkeitsnähe!" Arnheim sieht Kunst als "die Fähigkeit, Realität sichtbar zu machen". Und Sichtbarkeit werde durch Form erreicht; hingegen neige das unbehandelte Rohmaterial dazu, den Gegenstand unsichtbar zu machen. Arnheims Fazit, das eine Annäherung (wie sie hier im "Vorwort zur Neuausgabe" dokumentiert wird), aber auch eine klare Abgrenzung zur realismusorientierten Theorie beinhaltet: "Es ist notwendig geworden, darauf hinzuweisen, daß der echte Realismus aus der Interpretation des Rohmaterials der Erfahrung mit Mitteln bedeutungsvoller Form besteht und daß deshalb eine Beschäftigung mit der ungeformten Materie einer melancholischen Preisgabe gleichkommt und nicht etwa einer Wiedererlangung der Herrschaft des Menschen über die Realität." Oder, wie Arnheim es in einem Interview mit der Zeitschrift "Psychologie heute" vom April 1979 formulierte: "Kunst imitiert nicht die Realität - sie deutet Realität nur an. Sie enthüllt uns das Wesen der Dinge."

 

(Helmut H. Diederichs)

 

Kontakt: 

Dies ist die Webseite von  Helmut H. Diederichs (* 1948), Industriekfm., Dipl.-Volkswirt, Dipl.-Soziologe, Dr. phil. habil. (Filmsoziologie), Prof. (i.R.) für Medienpädagogik und Öffentlichkeitsarbeit, der als Ruheständler Freude daran hat, hier seine vergangenen und gegenwärtigen Aktivitäten zu dokumentieren - vor allem die wissenschaftlichen, aber nicht nur ...!