Rudolf Arnheim: Lebenslauf (1981)

Brief Arnheim vom 17. Juli 1981:

Ich weiß gar nicht, wie Sie es anstellen, mich dazu zu bringen, Dinge zu tun, die ich sonst nicht getan hätte. Dies mag der einzige etwas ausführliche Lebenslauf sein, den ich je geschrieben habe, und dabei mag's auch bleiben.

 

July 1981

 

Ich wurde am 15. Juli 1904 in Berlin geboren als Sohn des Kaufmanns Georg Arnheim und seiner Frau Betty geb. Gutherz. Mein Vater, in seinen jüngeren Jahren ein Handlungsreisender, hatte später eine kleine Klavierfabrik, die im Monat etwa fünfzehn Klaviere für den deutschen und ausländischen Markt herstellte. Meine Mutter war eine recht gebildete Frau, interessierte sich für die bildenden Künste, Musik und Literatur und sprach Französisch und Italienisch. Im Jahre 1938, noch gerade rechtzeitig, wanderten meine Eltern nach Kalifornien aus, wo mein Vater im Jahre 1943 starb. Er war 76 Jahre alt. Meine Mutter, geboren im Jahre 1879, wanderte später wieder zurück nach Deutschland, wo meine älteste Schwester am Bodensee lebte; sie starb in Überlingen im Jahre 1966.

 

Ich war der Älteste von vier Kindern und der einzige Sohn. Meine älteste Schwester, Leni, heiratete den deutschen Künstler und Kunsthistoriker Kurt Badt, der von entscheidendem Einfluss auf mein ganzes berufliches Leben gewesen ist. Schon als Kind zeigte er mir Kunstwerke - sein Vater besaß Cézanne-Aquarelle, eine Delacroix-Magdalena und einen Lehmbruck-Frauentorso - nahm mich (mit) ins Museum und brachte mir Grundbegriffe der Kunst bei, die mich nie verlassen haben. Er spielte auch sehr gut Klavier, und eine Weile machten wir Kammermusik zusammen. Zur Zeit des Exils lebten er und meine Schwester in London, wo auch ich etwa zwei Jahre lang war. Dort sahen wir uns viel, übersetzten auch miteinander Dantes Purgatorium in deutsche Prosa.

 

Meine zweite Schwester, Hilde, heiratete einen deutschen Arzt, Max Eichwald. Sie wanderten nach China aus und von dort nach Kalifornien, wo meine Schwester bald an Tuberkulose starb. Ihr einziger Sohn, Michael, wurde in den ersten Jahren von meiner Mutter aufgezogen. Als einziger Nachkomme unserer Familie lebt er als Arzt in Kalifornien.

 

Meine jüngste Schwester, Marie, Fotografin und Kunstgewerblerin, heiratete einen Fotografen deutscher Abstammung, John Gay. Sie leben in London.

 

Ich hatte meine Schulausbildung am Herder-Reform-Realgymnasium in Berlin-Charlottenburg. Wir hatten Latein und viel Französisch und Englisch, das mir gut zustatten kam. Ich war kein fleißiger Schüler, alles war nur eben "genügend", außer Zeichnen, das von einem altväterischen Original, einem Herrn Wilhelm Stapeler, unterrichtet wurde. Er ließ uns Vasen mit Licht und Schatten abzeichnen, hasste Fremdwörter, und in der Überzeugung, dass "schattieren" aus Welschland stammte, pflegte er zu sagen: "Arnheim, schummern Sie!" Als Primaner inszenierte ich in der Schule Grabbes "Scherz, Satire, Ironie und tiefere Bedeutung" und Aristophanes' "Frösche", dichtete dazu Prologe und spielte den Teufel im ersteren, den Euripides im zweiten Stück. Auch spielte ich die Geige im Schülerorchester.

 

Nach dem Abitur wollte mich mein Vater ins Geschäft nehmen, ich aber wollte auf die Universität. Eine Zeitlang verbrachte ich meine halbe Zeit im Büro, die andere Hälfte im Kollegsaal, und glücklicherweise gab ich das Kaufmännische bald ganz auf. Meinem Vater wurde nach der "Machtübernahme" die Fabrik weggenommen; und was wäre aus mir ohne meine akademische Ausbildung geworden?

 

An der Berliner Universität galt Psychologie damals noch als ein Teil der Philosophie, so dass man zwei Hauptfächer zu studieren hatte. Ich habe das nie bereut, und Philosophie hat in meiner Arbeit eine immer wichtigere Rolle gespielt. Als Nebenfächer hatte ich Kunstgeschichte und Musikgeschichte. Vor allem aber verbrachte ich meine Zeit im kaiserlichen Schloss, das nach der Revolution leer stand und wo dem Psychologischen Institut zwei Stockwerke eingeräumt waren. Dort in den malerischen Räumen der Hofdamen wurden die für die Gestaltpsychologie grundlegenden Experimentalarbeiten gemacht. Wolfgang Köhler war der Direktor des Instituts, und neben ihm waren die bedeutendsten Dozenten Max Wertheimer und Kurt Lewin. Der Musikethnologe Erich Maria von Hornbostel und der Kunstpsychologe Johannes von Allesch gehörten ebenfalls zum Institut. Wir arbeiteten fast ausschließlich experimentell, und ich verbrachte viele Jahre mit meiner Dissertation unter Wertheimer, in der ich die Ausdruckswahrnehmung an Handschriften und Gesichtern untersuchte. Die Dissertation wurde im Jahre meiner Promotion, 1928, in unserer Zeitschrift Psychologische Forschung veröffentlicht.

 

Inzwischen hatte ich begonnen, für Zeitschriften und Zeitungen zu schreiben, zumal, aber nicht ausschließlich über Film. Ich übernahm die Filmkritik für Hans Reimanns Zeitschrift Das Stachelschwein und schrieb meine ersten Beiträge für die Weltbühne noch unter Siegfried Jacobsohn. Nach Jacobsohns Tode bot sich mir die Gelegenheit, unter Carl von Ossietzky als Redakteur für den kulturellen Teil in die Redaktion der Weltbühne einzutreten. Seit 1928 widmete ich mich dieser sehr erfreulichen Tätigkeit. Ossietzky ließ mir viel Freiheit, und ich schrieb fast jede Woche außerdem einen eigenen Beitrag, häufig über Film, aber auch über andere ästhetische und psychologische Themen. Natürlich war ich in fast täglicher brieflicher Verbindung mit Kurt Tucholsky, der auch hin und wieder nach Deutschland zu Besuch kam. Alfred Polgar und Erich Kästner standen mir unter den Mitarbeitern am nächsten. Mit den Politikern hatte ich wenig Kontakt.

 

In Berlin ging es in jenen Jahren der Weimarer Republik kulturell ja sehr lebendig her. Ich arbeitete auch für den Rundfunk, die Vossische Zeitung, das Berliner Tageblatt usw. Von Filmleuten kannte ich Béla Balázs; an Wilfried Basses Filmen hatte ich einen sehr direkten Anteil; Andor Kraszna-Krausz, der die Zeitschriften und Bücher für den Wilhelm-Knapp-Verlag herausgab und der dann die Focal Press in London gründete, war ich freundschaftlich verbunden. Joseph von Sternberg sah ich hin und wieder, wenn er in Berlin war; ich besuchte ihn im Atelier, als er mit Jannings und Dietrich den Blauen Engel drehte. Ein Gespräch mit Eisenstein, der auf dem Rückwege von Mexiko in Berlin haltmachte, ist mir in Erinnerung geblieben, und auch der Besuch von Dsiga Wertoff, den die Basses bei sich beherbergten.

 

Dann kam 1933. Die Weltbühne stellte ihr Erscheinen ein, Ossietzky gehörte zu denen, die bald verhaftet wurden, und mir als Linksgerichtetem und Juden wurde alle berufliche Tätigkeit unmöglich gemacht.

 

Mein Buch Film als Kunst war gerade noch im Herbst (?)*) 1932 bei Rowohlt erschienen (auf dem Schutzumschlag mit einem Photogramm von Gyorgy Kepes, einem Schüler von Moholy-Nagy und später in Amerika ein guter Freund), hatte dann aber natürlich keine weitere Verbreitung in Deutschland. Es bekam später eine bibliographische Rarität, erschien auch 1933, sehr schlecht ins Englische übersetzt, bei Faber & Faber in London. Für die amerikanische Ausgabe von 1957 schrieb ich die Übersetzung neu und ersetzte die mir veraltet scheinende zweite Hälfte mit späteren Aufsätzen.

 

Da ich nicht länger in Deutschland arbeiten konnte, schlug ich dem Direktor des Internationalen Lehrfilminstituts in Rom vor, mich zu engagieren. Das Institut gab eine Zeitschrift in fünf Sprachen heraus und bereitete eine ausführliche Enzyklopädie des Films vor, die bei Ulrico Hoepli in Mailand erscheinen sollte. Für diese Enzyklopädie schrieb ich viele Beiträge und machte auch an die tausend Seiten Bilderumbruch - alles umsonst, da Italien 1938 aus dem Völkerbund austrat und damit seine Geldquellen verlor. Während meiner römischen Jahre kam ich natürlich mit vielen Mitgliedern des italienischen Filmwesens in Verbindung: Francesco Pasinetti war am Institut, Emilio Cecchi, ein bekannter Essayist war damals Dramaturg der Cines Produktionsgesellschaft; er war der Vater von Suso Cecchi D'Amico, die die Manuskripte für viele der neorealistischen Filme schrieb und mit Fedele D'Amico, einem Musikkritiker und langjährigen Freund von mir, verheiratet war. Ich kannte den späteren Filmregisseur Giuseppe de Santis in seinen Studentenjahren und unterrichtete auch gelegentlich an der römischen Filmschule, dem Centro Sperimentale per la Cinematografia. Das Institut schickte mich zur Venediger Filmbiennale, die ich in späteren Jahren noch einmal als Mitglied der Jury besuchte. (Das war in dem Jahr, in dem Antonioni den ersten Preis für Il Deserto Rosso erhielt.) Noch jetzt besitze ich einen Sonderdruck eines Aufsatzes über Farbenfilm von Louis Lumière mit handschriftlicher Widmung, die mir der alte Herr bei einem Besuch in Rom verehrte.

 

Meine Frau war mir nach Italien gefolgt: Annette geborene Siecke, die nach unserer Scheidung im Jahre 1943 den deutschen Kunsthistoriker Paul Laporte heiratete. Sie war die Tochter eines hannoveraner Fabrikanten und eine Freundin der Basses, bei denen ich sie in Berlin kennengelernt hatte. Unser einziges Kind, Anna, 1934 in Rom geboren, starb 1940 an Leukämie. Ihr Grab ist auf dem protestantischen Friedhof an der Cestiuspyramide. Annette lebt jetzt als Witwe in Santa Barbara in Kalifornien.

Als Mussolini 1938 den ausländischen Juden den Aufenthalt verbot, ging es wieder ans Wandern. Mit Hilfe des englischen Schriftstellers Herbert Read, der für mich die Bürgschaft übernahm, erhielt ich Einlass nach England, wo ich dann eine Zeitlang als Übersetzer für den deutschen Nachrichtendienst der British Broadcasting Corporation tätig war. Read und seine aus Deutschland gebürtige Frau übersetzten mein Buch Der Rundfunk sucht seine Form ins Englische. Die deutsche Urschrift dieses Buches ist erst vor ein paar Jahren zum erstenmal bei Hanser in München erschienen.

 

Anfang Oktober 1940, als Europa bereits im Kriege war, Amerika aber noch nicht, erhielt ich endlich das amerikanische Einwanderungsvisum und schiffte mich auf einem Schiff der englischen Cunardlinie ein. Meine ganze Barschaft waren zehn englische Pfund - mehr durfte man nicht (mit) herausnehmen. Ich lebte eine Weile bei meinem italienischen Freund Paolo Milano, den ich von Rom her kannte und der am Queens College unterrichtete. Nach dem Kriege ging er nach Rom zurück, wo er bis heute als Literaturkritiker des Espresso tätig ist.

 

Ich hatte Glück. Die Rockefeller Foundation gab mir ein Stipendium und verschaffte mir Forschungsarbeit am Office of Radio Research der Columbia University. Einer der Rockefeller-Stipendiaten war auch Hanns Eisler, der Versuche über Filmmusik anstellte, bevor er später nach Russland ging. Ein Jahr später erhielt ich ein weiteres Stipendium, von der Guggenheim Foundation, diesmal für Anwendung der Gestaltpsychologie auf die Kunst. Mit dieser Arbeit legte ich die Grundlage für mein späteres Buch, Kunst und Sehen, das erst 1954 erschien.

1943 erhielt ich eine Anstellung am Sarah Lawrence College in der Nähe von New York City. Ich unterrichtete Theoretische Psychologie und Kunstpsychologie bis 1966. In den zwei nachfolgenden Jahren schrieb ich mein Buch Anschauliches Denken, und von 1968 bis zum Erreichen der Altersgrenze war ich Professor für Kunstpsychologie an der Harvard-Universität.

 

1953 hatte ich meine zweite Frau, Mary geb. Frame, geheiratet, eine geborene Amerikanerin, Bibliothekarin von Beruf. Ihre Tochter aus erster Ehe, Margaret, heiratete einen holländischen Psychologen, Cornelis Nettinga, und lebt in der Nähe von Amsterdam, so dass wir von unserer Tochter und den Enkelkindern wenig zu sehen bekommen. Nach Beendigung meiner Harvardzeit in Cambridge zogen wir nach Michigan, wo ich an der Universität in Ann Arbor gastliche Aufnahme fand und auch jetzt noch, im Alter von 77 Jahren, eine Vorlesung pro Semester, d.h. zwei Wochenstunden, abhalte. Weitere Einzelheiten sind aus meinem Curriculum Vitae ersichtlich.

 

Ich vergaß noch zu erwähnen, dass ich bei meiner Ankunft in New York Gelegenheit hatte, meine alten Berliner Lehrer, Wertheimer und Köhler, wiederzusehen. Wertheimer war Professor an der University in Exile an der New School for Social Research in New York, wo auch ich zu unterrichten begann und 25 Jahre lang einen Abend wöchentlich unterrichtet habe. Nach Wertheimers Tod im Jahre 1943 übernahm ich seine dortigen Vorlesungen über Kunstpsychologie, und das war der Beginn meiner Universitätstätigkeit in diesem Fach.

 


*) Da erinnert sich Arnheim nicht ganz richtig. "Film als Kunst" kam bereits um die Jahreswende 1931/32 heraus, zumindest legen einige im November 1931 erschienene Vorabdrucke (in der "Weltbühne", in "Filmtechnik/Filmkunst", im "Berliner Tageblatt") dies nahe, in denen die Publikation "in diesen Tagen" angekündigt wird.

Kontakt: 

Dies ist die Webseite von  Helmut H. Diederichs (* 1948), Industriekfm., Dipl.-Volkswirt, Dipl.-Soziologe, Dr. phil. habil. (Filmsoziologie), Prof. (i.R.) für Medienpädagogik und Öffentlichkeitsarbeit, der als Ruheständler Freude daran hat, hier seine vergangenen und gegenwärtigen Aktivitäten zu dokumentieren - vor allem die wissenschaftlichen, aber nicht nur ...!